2003 - Wir sind noch einmal davongekommen

von Thornton Wilder, Koproduktion Théâtre d’Esch-Theaterhaus Stuttgart

(Inszenierung)

 

"Mitten im Leben sind wir mitten im Tod"

Welttheater hinter dem Eisernen: in Esch reduziert Eva Paulin Thornton Wilders Klassiker Wir sind noch einmal davon gekommen aufs Wesentliche.

Josée Hansen

 

Vielleicht ist es vor allem ein Stück über die Utopie des menschlichen Zusammenlebens, mit Kain, dem ewigen Mörder, mitten im Herzen der Familie. Thornton Wilder schrieb Wir sind noch einmal davon gekommen unter dem englischen Titel The Skin of our Teeth 1942, kurz vor dem Eintritt seines Heimatlandes Amerika in den zweiten Weltkrieg; 61 Jahre später scheint es genauso aktuell - und genauso anachronistisch -, wenn auch etwas weniger provokativ, als es wohl damals empfunden wurde.

 

Als "Geschichte der Menschheit in drei Katastrophen" (Eiszeit, Sintflut, Krieg) bezeichnete Wilder selbst sein Stück, das, als große Broadway-Show angelegt, 5000 Jahre Menschheitsgeschichte dank der vorbildhaften und unzerstörbaren Familie Antrobus erzählt. Für das Escher Theater hat Regisseurin Eva Paulin das Stück aufs Wesentliche reduziert, von den knapp 30 Figuren im Original fünf Haupt- und drei Nebenrollen zurückbehalten und anstatt einer großen Show eine chaotische Fernsehaufnahme im studioartig aufgebauten Bühnenraum hinten dem eisernen Vorhang angelegt. Das Publikum wird mit einbezogen, kann Häppchen essen oder dem neugewählten Präsidenten Antrobus (Jean-Paul Maes als stolzer Patriarch) zuwinken. Der permanente Einsatz des Camcorders mit Live-Übertragung auf die Videoleinwand scheint, außer dem visuellen Effekt und dem "modernen" Touch, den er dem Stück verleiht, keinen wirklichen Grund zu haben, aber bei dem durchgeknallten Stück muss wahrscheinlich sowieso nicht alles einen Sinn ergeben.

 

Wer sich manchmal einen amerikanischen Film ansieht, der weiß es mit absoluter Sicherheit: die amerikanische Familie gewinnt immer. So auch beim gläubigen Christ Wilder. Seine (Ur)Familie, bestehend aus dem Vater, der ins Büro fährt, um das Alphabet, das Rad oder das Einmaleins zu erfinden, der Mutter (Christine Reinhold, perfekt als biedere und strenge Henne), die sich um die Kinder und den Hausdinosaurier kümmert, der unschuldigen und strebsamen Tochter Gladys (Julia Dillmann, zum Brüllen komisch) und dem aufmüpfigen Sohn Henry, der seine "K"- wie Kain-Tätowierung auf der Stirn nicht wirklich verstecken kann (Marc Sascha Migge, wird immer besser). Mitten unter ihnen lebt das Dienstmädchen Lily Sabina, die ewige Verführerin - die schrille Ingrid Müller-Farny ist ohne Zweifel die Entdeckung dieser Produktion -, der mal der Vater, mal ein Gast nicht widerstehen kann. Doch alle finden immer wieder zueinander, überstehen alle Katastrophen gemeinsam, und fangen immer wieder von neuem an, die Welt aufzubauen.

 

"Verbrenne alles außer Shakespeare", telegrafiert der Vater nach Hause, als die Eiszeit naht, er jedoch länger im Büro bleiben muss, um noch schnell die Zahl 100 zu erfinden. Später will er fast schon den Ofen ausgehen lassen, weil sein Sohn wieder scheinbar grundlos jemanden getötet hat, doch es sind der Fleiß und das Wissen der artigen Tochter, die ihm wieder Mut geben. Wilders Stück ist eine Hymne auf die Bildung, seine Figuren sagen wirklich schöne Sachen (siehe Titel), doch weil sie sich nicht zu ernst nehmen, hat man nie das Gefühl, in einem Philosophiekurs für Anfänger zu sitzen. Wilder, dem es darum ging, die "Würde des Trivialen" zu verteidigen, schrieb ein vielschichtiges Stück, das alle Genres beinhaltet, vom Mysterium über die Tragödie bis hin zur komplett abgedrehten Farce, bei der alles bloß noch grotesk ist. Seine Figuren steigen immer wieder aus ihren Rollen, vermischen einige Ebenen des Textes und steigen dann wieder ein. Auch wenn der Schluss etwas durchhängt - besonders auch, weil Wilder dann doch immer moralischer wird - hat das Publikum an dem ganzen, lustig-skurrilen Durcheinander seine helle Freude.

 

 +++

 

 

"Immer wieder von vorne anfangen"

Thornton Wilders Stück "Wir sind noch einmal davongekommen"

Jeff Baden

 

Das Escher Theater präsentierte unlängst Thornton Wilders (1898-1975) Drama "Wir sind noch einmal davongekommen", das 1942 in New Haven (USA) uraufgeführt wurde und seinem Autor im darauffolgenden Jahr den Pulitzer-Preis einbrachte.

 

Den Mittelpunkt des Stückes bildet eine nach außen hin mustergültige, wenngleich stark typisierte, vierköpfige Familie, bestehend aus Vater (Jean-Paul Maes), Mutter (Christine Reinhold), Tochter (Julia Dillmann), Sohn (Marc Sascha Migge) und ihrem Dienstmädchen (Ingrid Müller-Farny). Die familiäre Personenkonstellation ist letztlich als stellvertretend für die gesamte Menschheit zu sehen, worauf auch bereits der signifikante Name "Antrobus" (eine offensichtliche Verballhornung des griechischen "Anthropos" = Mensch) hindeutet.

 

In einer Art Menschheitsgeschichte in drei Katastrophen durchleben die Protagonisten eine Eiszeit, die Sintflut und dann auch noch - als ein vom Menschen verursachtes Übel - einen Krieg. Dabei sind die einzelnen Familienmitglieder zugleich typisch amerikanisch, biblisch, mythisch, aber vor allem zutiefst menschlich. Thornton Wilder wirft dabei einen betont albernzynischen Blick auf die Menschheit und dekuvriert auf eine bitter-ernste und zugleich humorvoll-leichte Art die Unzulänglichkeiten des Menschengeschlechts.

 

Die Regisseurin Eva Paulin hat das vierstündige Bühnenstück um etwa die Hälfte auf die wesentlichen Kernpunkte gekürzt und die ursprünglich 30 Personen auf 8 reduziert. Neben den erwähnten Hauptrollen treten auch noch ein Moderator (Chris Anthony), ein Kameramann (Marcel Heintz) und ein Dino bzw. Mammut (Céline Reichel) auf und die Handlung darf man sich in einem fiktiven Film oder Fernsehstudio vorstellen, wobei das Geschehen per Videoübertragung ununterbrochen auf eine große Leinwand projiziert wird.

 

Durch das offensichtliche Inszenieren der Bühne als künstlichem Raum wird das Publikum. zu einer rationalen und nicht emotionalen Identifizierung mit der Handlung aufgefordert. Um die, durch die Vorzeigefamilie Antrobus suggerierte, nur scheinbar heile Welt in ihrer Brüchigkeit beständig sinnfällig zu machen, werden Raum und Zeit verfremdend relativiert, es erfolgen abrupte szenische Wechsel vom Tragischen zur Burleske, die Realitätsebene wird durch das Aussteigen aus der Rolle der Figur, etwa durch die direkte Ansprache und das unmittelbare Einbeziehen des Publikums, unentwegt gebrochen.

 

Auffallend an allen Figuren ist, dass sie trotz der jeweils drohenden Katastrophen zu keinem Moment wirklich die Hoffnung aufgeben. Nach jedem überstandenen Unheil lautet die Devise stets: "Immer wieder von vorne anfangen" und dies ungeachtet des Bewusstseins, dass man "sich immer wieder etwas vormacht." Das Stück ist eine, insbesondere in Krisenzeiten brisante, aber zuletzt zeitlose Auseinandersetzung mit dem ausdauernden Überlebenswillen des Menschen sowie mit dessen gleichzeitiger Unfähigkeit, Katastrophen zu vermeiden. Die Menschheit entwickelt sich trotz aller Bemühungen demnach auch nicht wirklich weiter, wird nicht "vollkommen", da jede Generation letztlich unbelehrbar in die gleichen existenziellen Fallen stolpert wie ihre Vorfahren.

 

Es gelang dem gesamten Schauspielerensemble um die Regisseurin Eva Paulin (assistiert von Claudine Muno) die jeweiligen Rollen überaus ausdrucksstark und differenziert zu interpretieren, wobei neben den eigentlichen Hauptdarstellern der Familie Antrobus insbesondere Ingrid Müller-Farny als schauspielerisch ungemein wandlungsfähiges und temperamentvoll spritziges Dienstmädchen Lily Sabina auffiel.

 

Die Kostüme besorgte Eva Paulin, für den Raum war Jeanny Kratochwil und für die Musik Claude Pauly verantwortlich.

vita

projekte

informationen