2000 - De Fenstermaates

von André Duchscher, 9.  Stengeforter Festival

(Inszenierung und Bühnenbild)

 

Die Dorfkirmes als Ort und Zeitpunkt der gesellschaftlichen

und individuellen Katharsis

Robert Medernach

 

Der Bauer Maates Kureler, genannt "Fenstermaates", und sein Onkel Theis töten den Förster Spang, der den "Fenstermaates" der Brandstiftung und des Wilderns beschuldigt hatte. Das Gewehr hatte der Mörder vorher in der Werkstatt des Zimmermannes Domenik Zonk gestohlen, dem nun der Mord in die Schuhe geschoben wird und der in Luxemburg im Gefängnis sitzt. Mit diesem Mord hat der "Fenstermaates" zugleich seinen Nebenbuhler Toni Zonk bei Marjänni, der Tochter des dörflichen Gastwirtes ausgeschaltet: Beide bewerben sich um Marjänni, Toni Zonk aus Liebe, Maates Kureler aus Berechnung.

 

Der Dreiakter "De Fenstermaates" spielt während der Dorfkirmes und nach dem Mord: Die antagonistischen Widersprüche zwischen der "Kurelerpartei", den alteingesessenen Bauern, und der "Zonkepartei", den "neu" zugezogenen Handwerkern des Dorfes, brechen ob der Frage der Schuld von Domenik Zonk voll auf: Es kommt zu ständigen Reibereien, Schlägereien und Verbalinjurien. Letztlich kommt die Wahrheit doch ans Licht: Der todkranke Onkel Theis, nach Belgien emigriert, kehrt nach Luxemburg zurück und gesteht den wahren Ablauf der Tat, "Bottergrit", die Zeugin war, jedoch aus Angst vor dem mächtigen Bauern geschwiegen hat, packt ihrerseits aus: Die Gerechtigkeit ist wieder hergestellt, allerdings bleibt, zumindest in der Inszenierung von Eva Paulin, die Frage offen, welche Zukunft das Paar Marjänni und Toni in dieser irrationalen Gesellschaft erwartet.

 

Duchscher beschreibt in seinem Stück sehr präzise die soziokulturelle Befindlichkeit im ländlichen Raum und in der agrarisch geprägten Gesellschaft während der Jahrhundertwende. Im Dorf stehen sich zwei soziale und ideologisch geprägte Parteien und Klassen gegenüber, die stellvertretend stehen für die politische, kulturelle und zivilisatorische Umbruchsituation zur Zeit der Industrialisierung unseres Landes: Auf der einen Seite die etablierten Bauern, stockkonservativ und heftig gegen alles Neue und Fremde eingestellt, auf der anderen Seite die Handwerker, die den neuen, aufgeklärteren und offenen, dabei ehrlicheren Geist verkörpern: Der Kampf, auch um Macht, Pfründe und Zukunft tobt heftig, entzweit die dörfliche Gemeinschaft und fordert allerseits Opfer.

 

André Duchscher, als aufgeklärter und linker Bürgerlicher nimmt dabei offen Partei für die Seite des Fortschritts.

 

André Duchscher hat seinen Dreiakter dramaturgisch sehr stringent, fast klassisch streng aufgebaut: Er respektiert die Einheit von Zeit, Ort und Handlung, seine Charaktere entäußern und entwickeln sich langsam, die Handlung auf der Erzählebene, wie auf der zweiten symbolischen Ebene der Botschaft, schreitet progressiv und graduell evoluierend, von dramaturgischen Umschwüngen begleitet, spiralförmig bis zur Auflösung voran. Duchscher bedient sich dabei der Konstituanten, Charakteristika, und Codes der traditionellen Bauerndramen: Klassenstolz, Besitzgierde, Liebe, Haß, Traditionsbewußtsein, Eifersucht, Hinterhältigkeit, alle Elemente des tradierten dörflichen Dramas, des populären und trivialen Bauerntheaters, werden als dramaturgische Eckpunkte bemüht in einer etwas kunstvoll konstruierten, literarisch leicht aufgebauschten und umgangssprachlich stilisierten Weise.

 

Eva Paulin nun hat mit ihrer Regiearbeit diese Konstituanten, Charakteristika und Codes bis zur letzten Konsequenz ausgereizt und damit allseitig umgekehrt: Ist der erste Teil des ersten Aktes mit einer sehr dichten, zurückhaltenden, gerafften und fast spartanischen Intensität inszeniert, kippt die Inszenierung alsbald in die Groteske, steigert sich stellenweise ins Schrill-Farcenhafte, Schräge, Surreale und Absurde: Der sarkastische Unterton verselbständigt sich, Paulin arbeitet mit allen inszenatorischen und darstellerischen Mitteln der szenologischen Verzerrung, des dramaturgischen, wie darstellerischen Überdrehens und der inhaltlichen Entfremdung: Die gängigen, a-historisch eingesetzten Utensilien und Metaphern der Moderne und Postmoderne - Laptop, Megaphon usw. - tauchen auf, die Figuren und Charaktere spielen verrückt, die allseitigen historischen und kulturell-ideologischen Parameter vermischen und verschieben sich. Eva Paulins Inszenierung verballhornt das Stück scheinbar, kehrt Botschaft wie Faktur um. Die agrarische Gesellschaftsformation des flachen Landes, die "Idiotie des Dorflebens" (Marx) erscheinen in ihrer schrillsten und schrägsten Form: Eine obsolete Lebens-, Denk- und Handlungsweise entblößt sich als kontraproduktives, a-historisches Produkt, das Gesellschaft, wie Individuen vergiftet. Eva Paulin, indem sie André Duchscher's "Fenstermaates" extrem grotesk entfremdet, führt das Stück auf seine eigentliche und intentionierte inhaltliche Substanz zurück und definiert die formale Struktur wie Faktur neu. Eva Paulins Inszenierung steht für eine äußerst effiziente, atemberaubende Dekonstruktion eines Klassikers der Luxemburger Bühnenliteratur mittels extremer Verfremdung und Verzerrung von Dramaturgie und Inhalt.

 

Serge Tonnar's musikalische Bearbeitung entspricht dieser furios mutigen, begrifflichen, inhaltlichen wie formalen Neudefinition des Duchscherschen Stückes. Das auf der Erscheinungsebene eingesetzte modische Zitieren des "politisch-korrekten" Konstrukts "Weltmusik" - auch mittels "exotischer" Instrumente - erinnert dabei zwangsweise an die steril inhaltlose, repressiv tolerante Funktion des "carnaval des cultures" etwa und entlarvt damit die konsumverliebte "Multi-Kulti"-Heuchelei einer Gesellschaft, die vorgibt, offen und aufgeschlossen zu sein und dabei doch zutiefst der alten agrarischen, lebenshorizontreduktionistischen und allem Fremden feindlichen, Lebens- und Denkweise realiter noch immer verhaftet ist.

 

Dramaturgischer Rhythmus wie szenologisches Tempo sind rasant stimmig, an vielen Stellen umwerfend und intelligent kontrapunktisch gesetzt: Eva Paulin kennt ihr inszenatorisches Metier aus dem Effeff.

 

In frappantem und eindrucksvoll dialektischem Gegensatz zur schrillen, bis zur Grenze des Klamauks gehenden, Inszenierung stehen dabei das formal strenge, fast symmetrische klassische Bühnenbild, so wie die extrem bedächtige, etwas phantasielose Beleuchtung.

 

Als allseitig überzeugend bis grandios kann die schauspielerische Leistung des gesamten Ensembles beschrieben werden: Eine bis zur Grenze des Erträglichen überkandidelte Mimik und Gestik, so wie eine streckenweise einzigartige rezitatorische Verfremdung des Textes auf einem für Luxemburg bislang unbekannten Niveau, machen diese Aufführung darstellerisch zu einem kleinen Meilenstein. Herausragend auch diesmal Jean-Paul Maes und Christiane Durbach, vielversprechend auch der Newcomer Raphaël Faramelli, der sein mimisches Metier mehr als beherrscht.

 

Nach dieser "Extreminszenierung", die mit Gags, Elementen der trivialen Unterhaltung, zynischen Anleihen an den "Luxemburger Humor", circensischen Kunststücken vollgespickt ist, wird es schwer sein, in Zukunft Duchscher- und andere Klassikerstücke weiterhin halbwegs adäquat und aussagekräftig inszenieren zu können, ohne hinter diese Inszenierung zurückzufallen: Die allseits ultimative inhaltliche, soziokulturelle, politische und formale Dekonstruktion der Luxemburger dramaturgischen Klassik dürfte hiermit erreicht sein.

 

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Die Zeiten ändern sich nicht

André Duchschers "Fenstermaates" in der ehemaligen Schmelz in Steinfort

Marc Rollinger

 

Domenik Zonk sitzt seit zwei Jahren wegen Mordes unschuldig im Gefängnis. Sein Sohn Toni wird zur Persona non grata im Dorf. Er darf seine Jugendliebe Marjänni nicht ehelichen, muß Haus und Hof verkaufen und gerät zusehends ins soziale Abseits. Sein Heimatdorf ist gespalten: in Anhänger und Gegner seines Vaters, letztere angeführt vom wahren Täter Maates Kugeler, genannt Fenstermaates, da er der Kirche ein Glasfenster stiften wollte unter der Bedingung, dass sein Porträt darauf zu sehen sei.

 

Der aufgestaute Hass entlädt sieh immer häufiger, bis bei einer Versteigerung die Wahrheit ans Licht kommt.

 

Einer unserer bedeutendsten luxemburgischen Theaterautoren, André Duchscher, hat diese simple Handlung Anfang dieses Jahrhunderts zu einem der besten, wenn auch selten aufgeführten Stücke in luxemburgischer Sprache verarbeitet. Was dabei herauskam, konnten knapp 100 Zuschauer in einer Bearbeitung von Eva Paulin bei der Premiere am Freitag im Kulturzentrum "Aal Schmelz" in Steinfort auf sich wirken lassen: eine rasante Kriminalfarce mit unverkennbar ernsten Untertönen.

 

Regisseurin, Dramaturgin und Bühnenbildnerin in einer Person, gelang es Eva Paulin, einen fast hundertjährigen Text modern zu interpretieren. Dies glückte ihr, indem sie das Stück, ursprünglich dem Echternacher Musikverein auf den Leib geschrieben, kürzte, die Zahl der Mitwirkenden von 55 auf 19 reduzierte und um neue, sehr gelungene Passagen erweiterte. Dies alles geschah in der Absicht, es frischer und noch rasanter zu gestalten ohne den Charakter des Werks zu lädieren. Eindeutig harmlose Textpassagen des Originals gerieten so durch wenige Regieanweisungen zu niemals platt wirkenden Lacherfolgen. Während zum Beispiel im Vordergrund einige Darsteller erläutern, wie der "Fenstermaates" zu seinem Spitznamen kam, suggerieren zwei Schauspieler im Hintergrund eine vom Autor nicht vorgesehene Erklärungsweise: das sogenannte Fensterln. Die Zuschauer dankten der Regisseurin alsdann auch mit lang anhaltendem Applaus für die bescherte Kurzweil.

 

Angesichts dieses Publikumserfolges mag man ihr manche unmotivierte Slapstickeinlage nicht übelnehmen, insbesondere diese den Gesamteindruck nicht nachhaltig trüben konnten.

 

Aber auch die Musik, um die sich der gleichzeitig auf der Bühne stehende Serge Tonnar kümmerte, tat das Ihrige, um den traurig-hoffnungslosen Hintergrund der Handlung zu unterstreichen. Es kamen in diesem Zusammenhang auch fast nur eine melancholische Stimmung schaffende Instrumente und Tänze zum Einsatz. Tango, russische Volksweisen und sogar ein Didjeridoo konnten fast problemlos in die Handlung integriert werden. Verschwenderisch eingeflochtene Musik- und Tanzeinlagen verlangten denn auch körperlich von vielen Darstellern das Äußerste, ohne dass diese sich es anmerken ließen.

 

Die Rollen waren bis auf wenige Ausnahmen hervorragend besetzt, und man merkte der Produktion nicht an, dass noch während der Proben einige Figuren krankheitsbedingt umbesetzt oder Rollen umgeschrieben werden mussten. Besonders aber die männlichen Hauptrollen wurden überzeugend verkörpert: Jean-Marc Calderoni als cholerischer Wirt, der seine Tochter lieber als alte Jungfer als mit dem Sohn eines vermeintlichen Mörders verheiratet sieht; Serge Tonnar als Schmied Quereng und Jean-Paul Maes als Baltes der Dachdecker, hin- und hergerissen zwischen zynischer Betrachtung, engagiertem Einsatz und dem eigenen Vorteil glänzten mit ihrem Können.

 

Aber auch in den Nebenrollen konnte sich der eine oder andere Darsteller in die Herzen der Zuschauer spielen: Mike Tock als ob seines einjährigen Gymnasiumsbesuchs eingebildeter Bauer Pir Bläxert; Daniel Plier als vagabundierender Studiosus pfifficus Pitter Mierf, der die undankbare Rolle übernahm, als Deus ex machina nachher alles zum Guten wenden zu müssen, und Alain Holtgen mit seinem exzellenten Auftritt als heimgekehrter belgischer Geschäftsmann Néckel Wak.

 

Das Thema des Stückes ist das alte Lied von den menschlichen Beweggründen: Angst, Neid, Hass und, manchmal, Liebe. Im "Fenstermaates" verlaufen die Angst-, Neid- und Hassgrenzen zwischen (alteingesessenen) Bauern und (zugewanderten) Handwerkern. Ob es aber, wie in Duchschers Stück, der Antagonismus zwischen Berufsgruppen oder zwischen Einheimischen und Ausländern, Weißen und Schwarzen ist, das Motiv für die Spannungen bleibt stets die Bewahrung oder das Gewinnen von Einfluss. Einzelne Schicksale sind da nicht mehr als ein Detail. Und der Verlierer ist, wie bei Duchscher, der Dom(m)enik. Die Zeitlosigkeit dieser Duchscher'schen Aussage durch bewusst eingesetzte Anachronismen zu vermitteln, gelang Eva Paulin auf bewundernswert unaufdringliche Weise. Duchscher wäre aber nicht Duchscher, wenn er seinem Stück nicht ein moralisches, versöhnliches Ende gegeben hätte. Die Dramaturgin tat gut daran, dieses dramaturgisch wenig logisch wirkende Ende teilweise durch einen offenen Schluss zu ersetzen. Das gesamte Dorf stürzt in einem fulminanten Schlusstableau streitend, fluchend, stampfend, polternd und um sich schlagend von der Bühne.

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